Dies Domini – 29. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Volk – ein Wort, ein Gefühl, eine Macht. Das Volk ist souverän. Volkes Stimme will gehört werden, sonst wird das Volk trotzig wie ein kleines Kind. Wie in der Quengelzone an den Kassen der Supermärkt ruft es dann: Ich will aber! Wir sind das Volk! Keine Großtat kann das Volk besänftigen, wenn es Hunger hat, kein Wunder die Ängste nehmen, wenn ein Volk im Dunkel lebt. Es würde freilich genügen, wenn das Volk den Kopf aus dem Sand nehmen würde und der Wahrheit so erhobenen Hauptes ins Auge blicken würde. Ein solches Volk wäre von echter Erkenntnis aufgeklärt. Die Freiheit aber scheint die Befreiten zu ängstigen. Die Schwester der Freiheit ist die Verantwortung. Verantwortung aber ist ein Zeichen des Erwachsenenseins, bedeutet Arbeit und Anstrengung. Die Kinder in der Quengelzone wissen noch nichts vom Wert dessen, was sie erquengeln wollen. Sie ahnen noch nicht, dass jedes Stückchen Schokolade seinen Preis hat. Sie sind noch unfrei, gefangen in ihren Primärbedürfnissen, abhängig von der Sorge derer, gegen die sie sich ein paar Jahre später in einem Anflug pubertärer Revolution auflehnen werden, zu allem fähig, aber für nichts verantwortlich. Nur wenige schaffen es offenkundig, eine weitere entwicklungspsychologisch entscheidende Schwelle des Lebens zu überschreiten und erwachsen zu freien, souveränen, und sich selbst und anderen gegenüber verantwortungsbewussten Menschen. Erwachsene wissen, dass sie nicht alleine auf der Welt sind. Ein Volk hingegen, das nur auf die eigenen Bedürfnisse schaut, steckt den Kopf in den Sand – voller Angst, ohne Vertrauen auf die eigene Stärke, die es hätte, wäre es erwachsen. Kinder aber sind schwach. Sie quengeln statt zu gestalten. Ihr Bedürfnis ist die einzige Wahrheit, die sie anerkennen. Wie weiland Mose möchte man ausrufen:
Was soll ich mit diesem Volk anfangen? (Exodus 17,4)
JHWH, der Gott Israels, hatte sich seinem Volk mehr als einmal machtvoll geoffenbart. In seinem Namen hatte Mose das Volk aus Ägypten herausgeführt. Der große Durchzug durch das rote Meer (vgl. Exodus 13,17-14,31) lag noch nicht lange zurück – eher Wochen als Monate. Die Erinnerung an dieses Wunder muss noch lebendig gewesen sein. Das Volk Israel hatte die Freiheit gewonnen. Es war auf dem Weg zur vollen Souveränität. Freiheit muss gelernt, Souveränität errungen werden. Nichts fällt einem in den Schoß. Erwachsene wissen das. Es sind mitunter wüste Zeiten, die ein Volk reifen lassen. Das Volk Israel aber fängt schon nach drei Tagen in der Wüste an, vor Hunger und Durst zu murren (vgl. Exodus 15,22ff). Aber Gott hilft und stillt zuerst den Durst des Volkes, indem er bitteres Wasser genießbar macht (vgl. Exodus 15,25).
Aber das Volk hat Hunger. Und es murrt. Und Gott hilft, in dem Wachteln schickt und Brot vom Himmel regnen lässt, das Manna. Manna ist eine Süßigkeit, denn es heißt:
Es war weiß wie Koriandersamen und schmeckte wie Honigkuchen. (Exodus 16,31)
Wunder über Wunder wirkt Gott an seinem Volk, das er umsorgt und hegt und pflegt wie ein Mutter ihre kleinen Kinder umsorgt und hegt und pflegt und satt und sauber hält, auf dass es ihnen an nichts mangelt.
Das Volk aber murrt weiter:
Die ganze Gemeinde der Israeliten zog von der Wüste Sin weiter, von einem Rastplatz zum andern, wie es der Herr jeweils bestimmte. In Refidim schlugen sie ihr Lager auf. Weil das Volk kein Wasser zu trinken hatte, geriet es mit Mose in Streit und sagt: Gebt uns Wasser zu trinken! (Exodus 17,1-2a)
Das Volk wird nicht erwachsen. Es erarbeitet nichts, es erwartet nur. Alles ist ihm selbstverständlich. Ihre Haltung ist die der Unfreiheit:
Wären wir doch in Ägypten durch die Hand des Herrn gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen und Brot genug zu essen hatten. (Exodus 16,3)
Ein wenig Durst und Hunger und Durst genügen, um das Vertrauen des Volkes zu erschüttern. Das Murren wird zum Kennzeichen dieses in den eigenen Bedürfnissen gefangenen Volkes, das Quengeln zum Ausweis der eigenen Unreife. Das Volk lernt nichts. Kein Wunder, keine Erfahrung, keine Großtat ist ihm genug. Es will, kann aber nichts.
Aus dem bloßen Wollen entsteht das Murren. Aus dem Murren entsteht Entzweiung. Dem Mose bleibt nur das Gebet, das zum Schrei der Verzweiflung gerät:
Was soll ich mit diesem Volk anfangen? (Exodus 17,4)
Ein Volk, dass nichts aus seinen Erfahrung lernt, bleibt unreif. Aber Gott hilft weiter. Er tut ein weiteres Wunder, an diesem Ort, den Mose Massa und Meriba nennen wird: Probe und Streit. Denn das Volk, das an Wunder gewöhnt diese für selbstverständlich nimmt, stellt die Frage der Fragen:
Ist der Herr in unserer Mitte oder nicht? (Exodus 17,7)
Selbst Wunder lassen die Gegenwart Gottes nicht erkennen. Ein Volk mit einem solchen Gott an der Seite könnte stark sein, wenn es auf diesem Fundament reifen würde. Aber das Volk erwartet nur, setzt das Wollen gegen die eigene Tatkraft und zürnt dem, der es erhält, wenn die eigenen Bedürfnisse nicht sofort befriedigt werden. Ein solches Volk ist leichte Beute.
So ergeht es auch dem Volk Israel. Gott, der Herr, hatte es weit geführt. Mehr als einmal hat er sein Volk gerettet. Das Volk aber hat nichts gelernt. Die erste Lesung vom 29. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr C weiß zu berichten, dass Amalek in Refidim mit dem Volk Israel suchte (vgl. Exodus 17,8).
Amalek ist ein Volk, das in der Bibel aus den Nachkommen Esaus hervorgegangen ist. Esau ist der ältere Zwillingsbruder Jakobs, des Stammvaters Israels. Jakob und Esau standen nicht nur in einem Konkurrenzverhältnis zueinander; nachdem Jakob Esau um sein Erstgeburtsrecht betrogen hatte, herrschte lange Zeit offene Feindschaft zwischen beiden. Die Bibel weiß zwar zu berichten, dass sich Jakob und Esau versöhnten (vgl. Genesis 33,1-20) und gemeinsam ihren Vater Issak bestatteten (vgl. Genesis 35,29). Die aus beiden Brüdern hervorgegangenen Völker gerieten aber spätestens mit der drohenden Landnahme Kanaans durch das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten wieder in Konflikt miteinander. Von Esau wird nämlich berichtet, dass er sich kanaanäische Frauen genommen habe (vgl. Genesis 36,2). Der Sohn Esaus und Adas, Elifa zeugte mit seiner Nebenfrau Timna den Amalek (vgl. Genesis 36,12), aus dem die Amalekiter hervorgingen. Die Amalekiter sind damit Kanaanäer, die sich von den Israeliten, den Nachfahren Jakobs bedroht fühlten.
Das Volk Amalek nutzt die durch innere Unreife entstandene Schwäche Israels und sucht den Kampf bei Refidim. Der Kampf wird zur Bewährungsprobe für das Volk werden. Es ist nun an ihm, den Kampf mit den Feinden Israels zu bestehen. Es hilft kein Bitten und Betteln mehr, kein Murren und Quengeln. Das Volk muss sich der Herausforderung, die das Leben ihm stellt, selbst stellen.
Mose weiß um diese Herausforderung. Er weiß, dass dem Volk Israel eine Reifeprüfung bevorsteht. Er muss ein Zeichen setzen. Deshalb stellt er sich auf den Gipfel des Hügels, von dem aus der das Schlachtfeld sehen kann; vor allem aber kann er von dem Schlachtfeld aus gesehen werden. Er wird den Gottesstab dabeihaben, mit dem er im Auftrag Gottes das rote Meer geteilt und Wasser und Nahrung für das Volk erwirkt hat. Der Stab ist nur ein Stab, nichts weiter. Aber er ist ein Zeichen für die Wirkmacht Gottes, ein Symbol für seine Gegenwart. Gott ist mit seinem Volk, er ist JHWH, er ist da!
Das Volk muss lernen, dass es nun selbst in der Macht seines Gottes handelt. Es muss selbst handeln. Es muss aufstehen, den Kopf erheben und sich den Aufgaben des Lebens stellen. So werden Männer in den Kampf gegen Amalek entsendet (vgl. Exodus 17,9f)
Mose steht sichtbar auf dem Hügel, die Männer ziehen in den Kampf. Zum ersten Mal übernehmen sie Verantwortung und stellen sich dem Leben. Sie sind noch zaghaft. Ihnen fehlt offenkundig das Selbstvertrauen. Sie waren doch gerade noch wie Kinder und sollen jetzt das Leben meistern? Sie, die sie als Flüchtlinge in ein neues Land ziehen wollen, stehen nun an der verschlossenen Grenze, bedroht von Waffengewalt, den Eingang verwehrt?
Mose erhebt sich, er erhebt die Hände – ein Zeichen der Macht, das Vertrauen einflößt. Aber die Kräfte des Mose erscheinen erschöpft, zerrieben in den Murrereien und Quengeleien. Die erhobenen Hände werden schwer, die Arme verlieren an Kraft. Wenn schon der, der bisher in der Vollmacht Gottes mit Stab und Arm die Fluten teilte und Wasser und Nahrung beschaffte, erschlafft – was soll nun werden?
Da endlich ergreift das Volk die Initiative:
Als dem Mose die Hände schwer wurden, holten sie einen Steinbrocken, schoben ihn unter Mose, und er setzte sich darauf. Aaron und Hur stützten seine Arme, der eine rechts, der andere links, so dass seine Hände erhoben blieben, bis die Sonne unterging. (Exodus 17,12)
Die Vertreter des Volkes sind es nun, die die Arme des Mose hochhalten. Sie wissen um seine Bedeutung, aber es ist nun ihre Kraft, die wirkt. Und Israel gewinnt den Kampf.
Im Fortgang der Erzählung heißt es:
Danach sprach der Herr zu Mose: Halte das zur Erinnerung in einer Urkunde fest und präg es Josua ein! Denn ich will die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel austilgen. Mose baute einen Altar und gab ihm den Namen „JHWH mein Feldzeichen“. Er sagte: Die Hand JHWHs ist ein Feldzeichen! Krieg ist zwischen JHWH und Amalek von Generation zu Generation. (Exodus 17,14-16)
Das Volk hat gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Daran soll es sich erinnern. Die Amalekiter werden zum Synonym für die immer wieder neuen Herausforderungen des Lebens. Keine Generation kann sich vor diesen Herausforderungen drücken.
Das biblische Volk Amalek wollte den Flüchtlingen Israels den Zutritt verwehren. Weit vor den Grenzen wollte es die Herausforderung abwehren. Amalek hat die wahre Herausforderung nicht verstanden. Hätte Amalek die wahre Herausforderung offen angenommen und dem Volk Israel Raum gegeben, man hätte nebeneinander in den Frieden gehen können, wie es auch die Stammväter Esau und Jakob letztlich vermocht haben. So aber gab es nur Sieger und Besiegte und eine Feindschaft entstand, die keine Sieger kennen kann.
Wer den Frieden erringen möchte, muss sich den Herausforderungen des Lebens stellen. Er muss aufhören zu murren, den Kopf aus dem Sand nehmen und erheben, das Leben anschauen und sich seinen Fakten stellen. Wer so handelt, wird die Wahrheit erkennen. Er wird sich die Herausforderung annehmen und um Lösungen ringen. Wenn er Frieden finden will, muss er den Vertriebenen, den Notleidenden, den Verfolgten Raum geben, statt ängstlich den eigenen Vorgarten retten zu wollen. Israel jedenfalls die ersten Schritte getan – und muss doch selbst noch viel lernen. Denn nichts ist gewonnen, wenn die Verfolgten zu Verfolgern werden.
Lerne, o Volk, lerne aus der Geschichte Israels. Steh auf, erhebe das Haupt und die Hände. Wandle die ängstlich geballte Faust in eine offene Hand, die etwas schaffen kann. Du wirst stark sein. Du wirst den Frieden finden.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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